Ein unverzichtbares Werkzeug, wenn man Dokumente aus der Zeit vor etwa 1950 auswerten will, ist die Fähigkeit, Sütterlinschrift zu lesen:
Es gibt zahlreiche Angebote, Kurse in denen man Schritt für Schritt an die Schrift heran geführt wird, oft mit dem Ziel, selbst schreiben zu können. Eine Google-Suche liefert als zweiten Treffer eine AI-gestützte Transkriptionssoftware, die allerdings zunächst mit „mit einer Reihe von Seiten trainiert werden [muss], die manuell transkribiert worden waren“, bevor sie Ergebnisse liefern kann.
Genau wie moderne Handschriften, unterscheiden sich natürlich auch handschriftliche Texte, die in Sütterlin verfasst wurden, von Verfasser:in zu Verfasser:in.
Ich behaupte, dass es sogar größere Unterschiede gibt, weil die Sütterlin-Standard-Buchstaben bei der Ausführung viel mehr Möglichkeiten zur Variation lassen, weil – insbesondere bei Texten, die außer deutsch auch anderssprachige Begriffe enthalten, oder die in den 1940er-1960er Jahren verfasst wurden – lateinische Buchstaben mit einfließen, aber vor allem, weil vor der allgemeinen Verfügbarkeit von Schreibmaschinen und erst recht Computern, das ständige handschriftliche Schreiben zu einer viel flüssigeren Schrift geführt hat.
Wenn ich daran denke, dass ich vor 20 Jahren seitenweise Aufsätze von Hand geschrieben habe und wie es mir jetzt schon schwer fällt, eine Seite Brief so zu verfassen, dass sie für andere einigermaßen lesbar ist…
Hier ein paar Beispiele, aus denen deutlich wird, wie unterschiedlich ein Sütterlin-Schriftbild ausfallen kann:
Ihr ausführlicher und netter Brief vom 11. soll gleich beantwortet werden, sonst wird es nimmer dazu kommen. Sie haben meiner Seele wohlgetan, daß Sie über die kleine Steuerarbeit so gute Worte fanden. Hier draußen in der großstädtischen und im ganzen feindlichen Welt hört man diese Stimmen besonders gern. Es ist ganz schlimm, wie völlig isoliert der Einzelne in diesem Brei herum[?].
Das letzte Wort konnte ich nicht komplett transkribieren, der zweite Teil des Wortes scheint mit einem „h“ zu beginnen, doch die weiteren Buchstaben ergeben erstmal keinen Sinn – hier kommt die Schwierigkeit hinzu, dass es sich um einen 1938 gängigen Begriff handelt, der 85 Jahre später nicht ohne weiteres optisch identifiziert werden kann.
Für Ihre guten Wünsche zur Ankunft von Nr. 4 danke ich Ihnen vielmals, ich habe mich sehr darüber gefreut. Hänschen hat zwar juristische Eigenschaften noch nicht gezeigt, ist aber für sein „Alter“ schon recht munter u. lebhaft, trinkt und lacht besonders, wenn man sich…
Diese Handschrift liest sich für mich viel leichter, als die erste, weil sie näher am Vorbild angelegt ist, die Buchstaben entsprechen viel mehr dem, was man erwartet.
Vielen Dank für die Korrekturbögen, die Sie mir geschickt haben! Es war sehr schön den herrschen Vollkommenheitsbegriff so mit wenigen Worten dargestellt zu bekommen. Er war mir ganz neu und interessiert mich sehr. – Von meiner Arbeit kann ich noch nichts schrieben, ich stecke zu noch ganz in den Anfängen. Auch habe ich zunächst ein bißchen Ferien gemacht, war wichtig und sehr schön war.
Diese Schrift scheint auf den ersten Blick die schwierigste zu sein, tatsächlich ist sie aber, weil zwischen den Buchstaben und den Wörtern viel Platz gelassen wird, viel einfacher zu lesen als das erste Beispiel. Die Schwierigkeit sind hier die Fachbegriffe, die sich entschlüsseln lassen, wenn man den Kontext kennt.
Ich denke schon aus diesen drei Beispielen, alle drei Briefe wurden zwischen 1934 und 1940 von drei unterschiedlichen Personen, die gleich alt waren, verfasst, wird deutlich, wo die Schwierigkeiten liegen.
Jede neue Handschrift muss – so wie es auch für die KI notwendig ist – trainiert werden, man muss sich einlesen, verstehen, welche Ticks die Schreiber:innen haben (Klein- und Großschreibung, Zusammenziehen von Buchstaben), welche Abkürzungen sie verwenden (u., u.a., u.s.w.), wie schludrig sie sind (Endungen!).
Normalerweise gehe ich so vor, dass ich einen Text direkt beim ersten Lesen abtippe und überall da, wo ich mir unsicher bin, Lücken ([?]) lasse, die sich beim zweiten, dritten oder x-ten Mal dann hoffentlich lösen lassen. Es hilft natürlich, wenn man weiß, um was es in einem Brief geht oder wenn man nach bestimmten Begriffen, Namen o.ä. Ausschau halten kann.
Und manchmal muss man auch einfach Mut zur Lücke zeigen, denn am Ende geht es in den wenigsten Fällen darum, jedes Wort zu transkribieren. Auch wenn es schwer fällt, ob in einem Satz „nun“ oder „nur“ steht ist bei 10 Seiten Brief oft nicht entscheidend.
Habt ihr Sütterlin-Texte, mit denen ihr nicht weiter kommt? Ich versuche gerne mein Glück damit!
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