Ich werfe zunächst einen Blick auf den Aufsatz, mit dem „alles begann“, den zuerst Ende 1931 publizierten Text Nohls mit dem Titel „Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik“, in dem er sein Programm für eine nationalpädagogische Unterstützung der Siedlerbewegung im Osten des damaligen Deutschland vorlegt.
Herman Nohls Rolle bei der Etablierung des weiblichen Arbeitsdienstes in Pommern
Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik
Herman Nohls Engagement für Siedlerinnen in Ostpommern beginnt mit einem Vortrag in Lippoldsberg am 19. Juli 1931.1 Dort, im Landheim des Pädagogischen Seminars der Universität Göttingen, treffen sich Mitglieder der “Gilde Soziale Arbeit” mit Vertreterinnen des Seminars. Das Treffen hatte Nohl so angekündigt:
Wir werden über 60 Menschen sein und wollen die pädagogische Aufgabe besprechen, die sich aus der Lage Deutschlands ergibt: die Aufgabe einer Nationalpädagogik, die jetzt die einseitige Sozialpädagogik ablöst.2
Nohl hält eine “Diskussionseinleitung”, die er einige Wochen später unter dem Titel Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik in der Zeitschrift Die Erziehung veröffentlicht.3 Der Aufsatz befasst sich mit der tagespolitischen Frage nach Lösungsansätzen für die vielen Arbeitslosen in Deutschland,
[… es soll] ein Versuch sein, diese verzweifelte Aufgabe von heute, vor der der Erzieher doch schließlich hilflos steht, durch eine von morgen zu ersetzen und so der Depression dieser Tage eine Hoffnung zu zeigen, die mehr ist als ein bloßer Traum, weil eine nationale Notwendigkeit hinter ihr steht.4
Eine Option zur Lösung dieser “verzweifelten Aufgabe” sei die Reagrarisierung Deutschlands, so Nohl, also die Versetzung arbeitsloser Städter in ländliche Gebiete, die unter Landflucht leiden, oder die generell wenig besiedelt sind.5 Damit werde nicht nur das Problem der Arbeitslosigkeit adressiert, sondern es werde “dem Osten” ganz generell geholfen, denn dort stehe die deutsche Existenz auf dem Spiel. An dieser Stelle folgt eine oft zitierte Passage, die auch hier wiedergegeben werden soll, weil sich Nohl der Sprache und der Themen, die zu dieser Zeit auch und besonders die Nationalsozialisten nutzten, bedient; Nohl schreibt:
Hier in Lippoldsberg, im Hause von Hans Grimm ist uns sein Wort vom “Volk ohne Raum” besonders nahe, aber angesichts des immer menschenleerer werdenden Ostens hat man mit Recht vom “Raum ohne Volk” gesprochen […].6 Gelingt es nicht, den Wall von deutschen Menschen hier zu verstärken und sie mit einem anderen Heimatwillen zu erfüllen, so brechen die Polen wirklich über kurz oder lang dort ein. Das braucht nicht kriegerisch zu sein, sondern sie strömen gewissermaßen schon rein dem Gefälle nach herüber, und kein Rechtsanspruch auf den Boden wird uns helfen, wenn die deutschen Menschen ihn selbst verlassen haben.7
Nohl bietet eine zweifache Problemlösung an: Einerseits werde durch eine Besiedelung des deutschen Ostens der Arbeitslosigkeit in den industriellen Zentren begegnet, andererseits durch physische Anwesenheit dort aktiv anti-polnische Politik betrieben. Diese Argumentation ist zum Zeitpunkt, da Herman Nohl seinen Vortrag hält, seit vielen Jahren Grundlage der Diskussion insbesondere, aber nicht nur in rechtsgerichteten Kreisen.8 Indem Nohl Aspekte dieser Diskussion in seinem Vortrag aufgreift, bezieht er Stellung, verortet sich selbst und macht deutlich, dass er “mitreden” möchte.9 Wieso aber glaubt Herman Nohl – als Pädagoge – etwas zum Themenkomplex “Lösung der Arbeitslosigkeit in Deutschland” beisteuern zu können?10 Dazu Nohl selbst:
Die Notwendigkeit solcher Landbewegung verlangt eine Änderung der Mentalität unserer Jugend, ein neues Selbstbewusstsein des Landmenschen und eine Steigerung seiner landwirtschaftlichen Ausbildung, verlangt eine neue Perspektive für alle pädagogischen Maßnahmen und Einrichtungen, die bisher im wesentlichen auf die Stadt ausgerichtet waren, und verlangt insbesondere für den Osten einen einheitlichen Kulturaufbau, der von nationaler Energie getragen, die lebendige Form ländlicher Kulturpflege schafft, die dann auch für die Arbeit in den anderen Provinzen vorbildlich werden kann.11
Der Pädagoge Heinrich Kupffer interpretiert diese Ausführungen dahingehend, dass die Pädagogik, wie Nohl sie versteht und vertritt, Mentalitäten ändern will und und daher in der akuten Notsituation, die Nohl der Gesellschaft allgemein und dem deutschen Osten im Speziellen attestiert, zur Hilfe kommen soll:
Pädagogik muß den Menschen umerziehen, damit so die Siedlungsbewegung neuen Auftrieb empfängt. Durch diese Erwartung wird Pädagogik zum Knotenpunkt, an dem sich politische, gesellschaftliche, wirtschaftliche, geistige, moralische Probleme schürzen und einer Lösung näher gebracht werden können.12
Nohl erklärt sich so: “Ob der Aufsatz irgendwelche praktischen Folgen haben wird, kann ich einstweilen nicht sagen. Mir schiene es unbedingt nötig, daß die Regierung gerade heute die Kraft der Pädagogik produktiv benutzt und nicht bloß durch ihre Sparmaßnahmen zerdrückt.” – womit er auf die durch die Regierung Brüning initiierte Deflationspolitik der Jahre 1930-1932 anspielt, von der die Pädagogischen Akademien, an denen nicht zuletzt seine Schüler:innen als Dozent:innen wirkten, besonders betroffen waren.13
Es scheint so, als habe Nohl mit seinem Vorstoß zudem eine theoretisch “Leerstelle” füllen wollen, da es für das Aufgabengebiet der Siedler:innen-Hilfe “aus seiner Sicht weder eine Theorie, noch ausreichende praktische Ansätze gibt”, ein Umstand, dem Nohl durch konkrete Vorhaben in diesem Bereich begegnen will.14 Herman Nohls Schülerin Elisabeth Siegel schreibt hierzu rückblickend und mit zumindest einem Hauch von Kritik, den andere seiner Mitarbeiter:innen und Schüler:innen vermissen lassen:
Man kann Nohls Vorträge und Aufsätze, 1932 mit dem Titel “Landbewegung, Osthilfe und die Aufgaben der Pädagogik” veröffentlicht, heute nur mit Betroffenheit lesen, weil er über die Unvereinbarkeit zwischen den von ihm skizzierten humanitären Idealen und den Zielen einer völkischen Ostbewegung – “Nach Ostland geht unser Ritt!” – glaubte hinwegsehen zu können oder zu müssen.15
Eine national-pädagogische Aufgabe16
Es muss sehr kritisch hinterfragt werden, ob Nohl tatsächlich glaubte, die Ziele der völkischen Ostbewegung ignorieren zu können – oder ob er diese Ziele nicht bewusst für seine Zwecke instrumentalisierte oder sich sogar zu eigen machte. Denn besonders zum zweiten, in Nohls Ausführungen gleichwertig mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als Problem identifizierten Thema, der vorgeblichen Bedrohung des angeblich menschenleeren deutschen Ostens durch das starke Bevölkerungswachstum des polnischen Nachbarn stellt sich die Frage, wie und wieso die Pädagogik darin ein Arbeitsfeld finden sollte.
Entscheidend ist hierbei, dass Nohl eben nicht von einem rein theoretischen Standpunkt aus argumentiert, sondern eine “national-pädagogische” Position einnimmt. Die sogenannte “Nationalpädagogik” wird bei Nohl zum Vehikel für den Aufbau einer nationalen Kultur, die sich gleichzeitig weg von städtischen hin auf die Bedürfnisse in ländlichen Gebieten orientiert.17 Michael Gran, der den Aufsatz detailliert analysiert hat, erklärt: “Der Aspekt der Arbeitslosigkeit vereint sich hier einerseits mit einer Kulturkritik des Stadtlebens, anderseits mit einer Angst vor dem Verlust kultureller Identität durch die polnische Bevölkerung. Neben dieser irrationalen Furcht gibt es”, so Gran weiter, “objektive Notlagen und Mangelsituationen, die eine pädagogische Arbeit auf diesem Gebiet rechtfertigen.”18 Die tatsächlichen Problemfelder, für die aus pädagogischer Perspektive Lösungsangebote geschaffen werden könnten, werden bei Nohl allerdings, wie Melanie Werner hervor hebt, nationalistisch überhöht, “die Besiedlung des Ostens, das Land wieder zur Heimat werden zu lassen wird zu einer sozial- und nationalpädagogischen Aufgabe, bei der ‘die deutsche Existenz […] auf dem Spiel stehe.’”19
Zusammenfassend stellt Heinrich Kreis fest:
Nohl sieht die Osthilfe als eine Aufgabe in nationalpädagogischer Verantwortung einmal als Gestaltungsaufgabe in vielen sozialpädagogischen Aufgabenfeldern und – darauf bezogen – als Förderung des Gedankens der Selbsthilfe, des Selbsttuns, der freien Einsicht, also in thematischer Hinsicht: der “geistigen Entfaltung”. Man kann das so deuten, das man es tatsächlich mit einem Zielaspekt zu tun hat, der das Individuum und seine geistige Entfaltung zum Inhalt hat, und mit einem weiteren funktionalen Zielaspekt, nämlich die Gestaltungsaufgabe gegenüber dem Gemeinwesen. Zwischen beiden Aspekten besteht Konkomitanz. Es geht also Nohl nicht im Kern um die landwirtschaftliche Nutzung der Ostgebiete; der Mensch muss in die Lage versetzt werden, sein von Not bestimmtes Dasein zu vergeistigen und nach seinen besten Kräften zu gestalten.20
Grundlegendes Prinzip für die Entwicklung kulturellen (“vergeistigten”) Lebens auf dem (ostdeutschen) Lande ist für Herman Nohl weibliches Engagement, denn so erklärt er, “die Volksbildung beruht vor allem auf der Entfaltung der weiblichen und insbesondere der hausmütterlichen Kräfte.”21 Und hier nun kommt die neue Idee – die Lösung der von Nohl identifizierten Probleme mit Hilfe der Sozialpädagogik könnte durch “ausgebildete Kräfte[, die] für eine solche Leistung zur Genüge vorhanden sind” angegangen werden werden und zwar von “[…] Kindergärtnerinnen und Jugendleiterinnen, […] Jugendpfleger[n], [den] Leiter[n] von Volkshochschulen und Volksbüchereien, vor allem [durch] die Landwirtschaftslehrerinnen und Gewerbe- und Haushaltungslehrerinnen.”22 Damit – so stellt Heinrich Kupffer weiter fest – macht Nohl die “recht eigenwillige” Verbindung zwischen einer als “seelisches, menschliches, erzieherisches Defizit” verstandenen Notsituation, die durch eine Erziehung hin zum Land aufgehoben werden könnte.23
Wie aus dieser kurzen Analyse des Aufsatzes Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik bereits deutlich wird, positioniert sich Herman Nohl im Sommer/Herbst 1931 mit einer eindeutigen Agenda in einem politisch bedeutsamen Kontext, denn die “Lösung” der Arbeitslosigkeit und das Verhältnis zu Polen sind zwei der wichtigsten politischen Themen, der letzten Jahre der Weimarer Republik.
Die Besiedelung ehemaligen Großgrundbesitzes im Osten Deutschlands hatte ihren Ausgangspunkt einerseits in der Verfügbarkeit von Land aufgrund dessen, dass landwirtschaftliche Großbetriebe infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten bankrott gingen.24 Diese Ländereien wurden durch Siedlungsgesellschaften aufgekauft, die sie parzellierten und an Siedler verpachteten, i.d.R. mit der Aussicht, das gepachtete Land nach Ablauf einer bestimmten Anzahl von bewirtschafteten Jahren automatisch zu erwerben. Viele Siedler:innen sahen die Möglichkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen, die Chance, eigenes Land zu besitzen und die Gelegenheit eines wirtschaftlichen und sozialen Neuanfangs, der zudem staatlich gefördert wurde, als ausreichend attraktiv an. Die Regierung wiederum versprach sich von den Siedler:innen und deren Bewirtschaftung des ansonsten brach liegenden Landes einen Beitrag zur Versorgung der Bevölkerung. Andererseits verband sich auf übergeordneter Ebene mit der Idee der Besiedlung ostdeutschen Landes der Gedanke eines “menschlichen Walles”, der gegen die neu gegründete Republik Polen errichtet werden müsse, die nicht zuletzt aufgrund der im Versailler Vertrag an Polen gefallenen Gebiete, als außenpolitischer “Hauptgegner” Deutschlands galt.
Siedlung war ein nach innen (im Sinne einer gemeinsamen, nationalen Kraftanstrengung des “deutschen Volkes”) und nach außen (als anti-polnische Maßname) gerichtetes Vorhaben. In der Siedlungsbewegung engagierten sich, nicht nur, aber in hohem Maße, extrem rechte Gruppierungen, für die eine direkte Linie von der Kritik an der großstädtischen Lebensform als Wurzel allen kulturell-wirtschaftlich-politischen Übels zu den hierfür vorgeblich verantwortlichen “jüdischen Hintermännern” führte.25 Die Siedlung wurde als Mittel zur “Gesundung” des deutschen Volkes und zur Gewinnung neuen “Lebensraums” betrachtet.
Eine solche Argumentation findet man bei Nohl nicht, doch die in seinem Aufsatz deutlich werdende Zivilisationskritik, mit dem “Heilmittel” der Siedlung im Osten, zeigt wie weit verbreitet und unwidersprochen diese Art von Überlegungen Anfang der 1930er Jahre war – und wie sich Nohl in den Diskurs einschrieb. Denn, wie Benjamin Ortmeyer für den Sammelband Landbewegung, Osthilfe und die Aufgabe der Pädagogik fest stellt:
Diese Texte […] zeigen die grundsätzliche Annäherung Herman Nohls an die NS-Politik, seine Denkfigur einer Bejahung des Kerns der NS-Ideologie und NS-Bewegung bei gleichzeitiger Warnung vor der Vernachlässigung der Freiheit der Geistigkeit. […] Nohl beweist mit dieser Aufsatzsammlung, dass er nicht erst nach dem Februar 1933 deutlich nationalistische Positionen eingenommen hat, sondern bereits davor – einschließlich einer gewissen Unterstützung der NS-Bewegung.26
Nicht unproblematisch ist angesichts dieser Feststellung die Erklärung seiner Schülerin und engen Vertrauten Elisabeth Blochmann zu Nohls Engagement. Sie beschrieb Nohls Motivation 1969 sehr wohlwollend und nachsichtig und legte damit einen Grundstein für die Rezeption Nohls, der lange Bestand hatte:
Worauf es hier ankommt, ist zu zeigen, daß er innerhalb dieser sozialpolitischen Gegebenheiten eine große nationalpädagogische Aufgabe sah und zugleich die Möglichkeit, die Flut der weithin noch vagen nationalen Emotionen junger Menschen, in denen sich Unwille, Verzweiflung und dumpfe Sehnsucht mit einem weit verbreiteten neuen Interesse am deutschen Osten mischten, in einen Strom zu lenken, der ihnen die Richtung auf eine positive Aufgabe geben konnte, eine Art Entwicklungshilfe, damit sie nicht in den Radikalismus einmündeten. Das von Nohl in diesen Jahren Gewollte ist unzweideutig vom Nationalsozialismus unterschieden durch die wache Humanität, die seinen sozialpädagogischen Willen beseelte. Der Begriff „völkisch“ kommt dabei nirgends vor.27
Aktivitäten in Berlin
Um einschätzen zu können, was Nohl “wollte”, hilft es, sich damit zu befassen, was er tatsächlich tat. Zunächst einmal will Herman Nohl sichergehen, dass nicht nur die Leser:innen der Zeitschrift Die Erziehung seine Ideen kennen lernen, sondern auch diejenigen Personen, die sie in die Tat umsetzen könnten.28 Und so sendet er Mitte November 1931 einen von 50 Sonderdrucken seines Aufsatzes nach Berlin ins Preußische Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, an Staatssekretär Hans Krüger (SPD).29 Krüger ist u.a. zuständig für die landwirtschaftlichen Lehranstalten Preußens, er studiert den Text aufmerksam und schlägt Nohl ein Treffen vor.30
Käthe Delius, Regierungsrätin im selben Ministerium, Leiterin des Referats für Frauenarbeit und das weibliche Bildungswesen, hat den Aufsatz ebenfalls gelesen, allerdings ohne Nohls explizites Zutun.31 Sie meldet sich bei ihm mit Kritik, Lob und der Bitte um Unterstützung.32 In Käthe Delius’ Zuständigkeitsbereich fallen die ländlichen Hauswirtschaftsschulen, sie gilt als treibende Kraft hinter der Institutionalisierung der Hauswirtschaft als Wissenschaft; Käthe Delius setzt sich insbesondere für den Ausbau der Fachausbildung für Schülerinnen auf dem Lande ein und als Folge daraus bzw. Bedingung dafür die ländlich-hauswirtschaftliche Lehrerinnenausbildung.33
Viele Jahre später verfasst Käthe Delius eine biographische Skizze, die sich vor allen Dingen auf ihre berufliche Tätigkeit bezieht. Darin schildert sie das Dilemma, das sie Anfang der 1930er Jahre zu beheben versuchte – die Ausbildung von sog. Landmädchen an Landwirtschaftsschulen war auf die Wintermonate beschränkt, die dort angestellten Lehrerinnen waren den Sommer über immer wieder arbeitslos bzw. ohne Aufgabe:
Um die Lehrerinnen auch im Sommer zu beschäftigen, denn sie mussten hauptamtlich angestellt werden, sah ich […] zunächst das Abhalten von Wanderkursen vor. Das befriedigte mich jedoch nicht. Die Landwirtschaftslehrer wurden im Sommer mit der Wirtschaftsberatung [in den Siedlungen, S.G.] befasst und ich fragte mich, ob nicht so etwas auch für die Hauswirtschaft möglich sei. […] So setzte ich als Aufgabe für die Lehrerin in den Sommermonaten die [Haus-, S.G.]Wirtschaftsberatung ein.34
Diese Lehrerinnen, selbst i.d.R. Absolventinnen von Hauswirtschaftsschulen, sieht Käthe Delius als ideale Kandidatinnen für den von Nohl skizzierten Aufgabenbereich einer Unterstützung für die überlasteten und überforderten Siedlerfrauen in den östlichen Gebieten des Reiches, sie schreibt:
Sie wollen die Aufgabe praktisch dadurch lösen, dass Sie pädagogisch und sozial geschulte Frauen als Führerinnen in die Siedlung hineinstellen. Ich stimme Ihnen darin durchaus zu, dass den Frauen auf diesem Gebiet eine besondere Aufgabe erwächst. Es genügt aber keineswegs, dass diese Kräfte nur pädagogisch oder sozial geschult sind, sondern die wirtschaftliche Schulung ist m.E. die Grundlage, um überhaupt eine Führerstellung in der Siedlung einnehmen zu können.35
Bereits in diesem ersten Brief Käthe Delius’ an Herman Nohl wird ein Konflikt deutlich, der sich im weiteren Austausch zwischen den beiden weiter manifestieren wird: wer soll die Aufgabe übernehmen, die von unterschiedlichen Seiten her als so wichtig verstanden wird? Die prinzipiellen Trennlinien verlaufen dabei zwischen den Vertreter:innen einer wirtschaftlichen Beratung und denen, die eine (sozial)pädagogische Unterstützung fordern. Die jeweiligen Argumente werden im Folgenden immer wieder angebracht, zu einer Festlegung in die ein- oder andere Richtung wird es aber nicht kommen. Grundsätzlich einig sind sich beide Seiten dahingehend, dass es sich bei der skizzierten Aufgabe um eine a) notwendige, b) neue und c) längerfristige Tätigkeit handelt, für die zum aktuellen Zeitpunkt weder eine perfekte Stellenbeschreibung, noch 100% passende Bewerberinnen bereit stehen. Einig ist man sich auch darin, dass neben der Hilfe für die Siedlerinnen die Arbeitslosigkeit – im Allgemeinen durch Förderung des Siedlungsgedankens und im Speziellen von (weiblichen) Fachkräften angegangen werden soll.
In einem Brief an seinen “Freundeskreis” zum Jahresabschluss 1931 geht Nohl auf seine Aktivitäten in den zurückliegenden Wochen ein:
Daneben ging die Arbeit, die durch den Ostaufsatz in mir und in einem überraschend weiten Kreise ausgelöst worden ist. Auch dafür hoffe ich in Berlin tätig sein zu können.36
Aus den ausgewerteten Quellen können zwei Termine etabliert werden, die Nohl in diesem Zeitraum und zu diesem Themenkomplex in Berlin hatte. Und zwar lädt ihn Hans Krüger für den 3. Januar 1932 zu sich nach Hause in die Wachtelstraße 437 in Dahlem ein und kurz darauf scheint er Adolf Grimme, den Kultusminister, getroffen zu haben.38 Grimme wolle sich zum Thema Siedlerinnenberatung, so Nohl, “mit [Hans Krüger], mit [Hans] Schlange-Schöningen39 und [Gertrud] Bäumer40 in Verbindung […] setzen.” Grimme sei, so berichtet Nohl an Hans Krüger “auch bereit, für die Ostaufgabe einen besonders aktiven Menschen kommissarisch zu delegieren. Ich schlug ihm Frau Direktorin [Luise] Besser41 von der sozialen Frauenschule in Breslau vor […].” Diese solle, so Nohl weiter, die zukünftigen Siedlungsberaterinnen für ihre Aufgaben schulen.42
“Zugleich würde man eine Bezirksleiterin ernennen müssen, die die Mädchen zusammenhält.”, teilt Herman Nohl mit und es ist unklar, ob er immer noch aus seinem Gespräch mit Adolf Grimme berichtet, oder nun seine eigenen Ideen ausbreitet, denn er hat bereits eine Personalien für diese Position im Auge. Elisabeth Siegel, geboren 1901, ausgebildete Jugendfürsorgerin, hatte ab 1926 bei Herman Nohl in Göttingen studiert und dort 1930 ihre Promotion abgelegt.43 Seit Anfang 1931 ist sie an der neu gegründeten Pädagogischen Akademie in Stettin angestellt, droht im Herbst 1931 mit deren absehbarer Schließung aber arbeitslos zu werden.44 Damit ist von Anfang an – für Leser:innen, die aus der historischen Rückschau die parallel stattfindenden Briefwechsel nebeneinander legen können – klar, dass Nohls Vorstoß eine ganz persönliche Komponente hat: Ihm ist an der Lösung der Arbeitslosigkeit nicht nur auf nationaler Ebene, sondern ganz konkret für seine eigenen Schüler:innen gelegen.45
Angesichts der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt und der Einsparungen insbesondere im Bereich der sozialpädagogischen Ausbildungsstätten, die seine Schüler:innen direkt betrifft, scheint die These Wolfgang Klafkis und Johanna-Luise Brockmanns wonach “Nohls siedlungspädagogische Aktivitäten” Ausdruck seiner “Sorge um die berufliche Zukunft seiner Schüler/innen” gewesen seien, damit zutreffend. Klafki & Brockmann stellen richtig fest, Nohl habe “Ausschau nach Anstellungsmöglichkeiten sowohl für die aus dem Dienst entlassenen wie die vor dem Abschluss ihres Studiums stehenden Pädagog/innen” gehalten, allerdings verorten sie diese Aktivitäten im Sommer 1933, als bereits einige seiner Schüler:innen aufgrund nationalsozialistischer Gesetzgebung entlassen worden waren und wenig Aussicht auf Wiedereinstellung hatten.46 Die Auswertung der unterschiedlichen Briefwechsel, die Nohl bereits seit Ende des Jahres 1931 zum Thema “Siedlerinnenberatung” führte, verdeutlicht aber, dass er sich schon vor der nationalsozialistischen Machtübernahme mit der Frage von Beschäftigungsmöglichkeiten für (seine) Sozialpädagog:innen befasste.47
Hinterfragt werden muss dagegen die These Stefan Pfeiffers, wonach Nohls Agieren in den Jahren 1931-1933 der Versuch gewesen sei, der Pädagogik als Wissenschaft und Berufsfeld ihre relative Autonomie zu erhalten und ihre Existenz zu sichern, indem sie sich in den “Dienst der Nation” stellte, oder anders gesprochen, indem sie sich inhaltlich einen neuen Zweck gab, nämlich eine Art nationale Unterstützungsfunktion.48 Hierfür liegen keine weiteren Belege vor, zudem bestand in den Jahren 1931 und 1932 zwar eine Finanzierungskrise, jedoch keine staatlicherseits verfolgte inhaltliche Einschränkung oder der Versuch einer Vereinnahmung der Pädagogik von staatlicher Seite.
Gut dokumentiert ist dagegen ein weiteres Treffen aus dem Januar 1932, das den im weiteren zu beschreibenden Stein ins Rollen bringen wird, das allerdings ohne Nohls Teilnahme stattfindet. Hans Krüger, den Nohl am Vortag brieflich über seine Ideen informiert hat, setzt am 14. Januar 1932 eine interne Arbeitssitzung im Landwirtschaftsministerium an. Es sollen die Bedingungen für einen praktischen Versuch mit Siedlungshelferinnen besprochen werden, das von Käthe Delius erstellte Protokoll hält fest:
Die Siedlerinnenberatung ist besonders in den jetzt erstrebten Primitivsiedlungen von grosser Bedeutung.49 Die Aufgaben der Beraterinnen in der Siedlung sind wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Art. […] Es kommen folgende Berufsgruppen in Frage: Lehrerinnen der landwirtschaftlichen Haushaltungskunde, Lehrerinnen für hauswirtschaftlichen Gartenbau, Kindergärtnerinnen, Jugendleiterinnen, Wohlfahrtspflegerinnen, eventuell Haushaltspflegerinnen. Alle diese Berufsgruppen brauchen nach der einen oder anderen Seite hin eine ergänzende Ausbildung.50
- Ein Außengebäude des ehemaliges Kloster Lippoldsberg, bewohnt von Hans Grimm, wurde durch Nohl und seine Studenten erworben und ab 1930 zum Landheim ausgebaut. Das Vorhaben und später der Unterhalt des Gebäudes waren die Grundlage für den “Verein der Freunde des Göttinger Pädagogischen Seminars”, vgl. dazu Blochmann ab S.145 und http://institutsgeschichte-ife.uni-goettingen.de/1929/10/01/landheim-in-lippoldsberg-das-nohl-haus/. Zur Genese des “Landheims” im Zuge der Jugendbewegung vgl. Harry Pross: Jugend, Eros, Politik – Die Geschichte der deutschen Jugendverbände, Bern (u.a.) 1964, S.113: “Das Landheim sicherte vor allem Wiederholung des Zusammenseins außerhalb der Alltagsbindungen. Einzelstehende Gehöfte, abgelegene Hütten, verlassene Werkstätten waren besonders begehrt. […] Es war ausgemachte Sache, daß ein Landheim nicht fix und fertig bezogen wurde, sondern von seinen Besitzern ‘gestaltet’ werden mußte.” ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 19.07.1931, vgl. zu den Treffen und den Mitgliedern der Gilde Soziale Arbeit https://gilde-soziale-arbeit.de/wp-content/uploads/2019/01/Jahrestagungen-der-Gilde-Soziale-Arbeit.pdf. Die Gilde Soziale Arbeit war 1925 u.a. von Herman Nohls Mitstreiter Curt Bondy gegründet worden (Klafki & Brockmann S.293), vgl. ausführlich Schnurr, Stefan: Sozialpädagogen im Nationalsozialismus – Eine Fallstudie zur sozialpädagogischen Bewegung im Übergang zum NS-Staat, Weinheim und München 1997, S.43, der für die Jahre 1930-1933 von 600-800 Mitgliedern ausgeht. ↩︎
- Herman Nohl: Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik – Niederschrift einer Diskussionseinleitung bei der Zusammenkunft der Sozialen Gilde mit dem Pädagogischen Seminar der Universität Göttingen in Lippoldsberg am 19.07.1931, in: Die Erziehung 7 (1931/32), S.65-76, ebenfalls erschienen in Herman Nohl: Landbewegung, Osthilfe und die Aufgabe der Pädagogik, Leipzig 1933, S.1-16. ↩︎
- Nohl Landbewegung (1933) S.1. Herzstück des Planes, den Nohl vorstellt, sind Jugendheime bzw. Kindergärten (Nohl Landbewegung (1933) S.11f, Blochmann S.126). In der ursprünglich veröffentlichten Variante des Textes ist noch die Rede von “1000 Jugendheimen” (Nohl Landbewegung (1931) S.72), diese Zahl wird 1933 nicht mehr aufgeführt. ↩︎
- vgl. zu Nohls Zivilisationskritik und seiner Überhöhung des Landlebens Werner S.318-321 sowie Heinrich Kreis: Herman Nohl – Durch Erziehung Lebenswelt gestalten? Theoretische Rekonstruktion eines umstrittenen pädagogischen Konzeptes, Bad Heilbronn 2018, S.117f. ↩︎
- Nohl verweist in seinen Fußnoten auf die Publikation “Volk ohne Raum” von Johannes Dierkes, tatsächlich lautet der Titel korrekt “Volk und Raum”, vgl. https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/person/gnd/1186418338 . (Dies so inkorrekt auch im Abdruck in Die Erziehung 1931.), vgl. Gran S.190 ausführlich zu Hans Grimm und zur Bedeutung des Zitats vom “Volk ohne Raum” sowie dem “Raum ohne Volk” ( S.190 An. 471), vgl. die ähnliche Verwendung der Wendung “Volk ohne Raum” bei Friedrich Hiller: Der Frauenarbeitsdienst im Kampf um die Erneuerung Deutschlands, Langensalza (u.a.) 1934, S.6: “Die Gedankenwelt der französischen Revolution, die Hardenbergsche Gesetzgebung und die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden leiteten die Umwandlung Deutschlands aus einem Agrarstaat in einen Industriestaat ein. […] Die Kultur entartete zur Zivilisation. […] Das Diktat von Versailles machte uns zum Volk ohne Raum.”, vgl. Morgan S.92 An.2 zu Hillers Denkschrift. Schon Wolfgang Benz: Vom freiwilligen Arbeitsdienst zur Arbeitsdienstpflicht, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 16 (1968), 4. Heft, S.317-346 verwies auf den Einfluss Grimms auf die Arbeitsdienst-Diskussion innerhalb der NSDAP: “[…] so stand hinter der ‘Umschichtung unseres Volkes aus den Großstädten aufs Land’ und der ‘Umgruppierung aus der übermäßig aufgeblähten Industrie zurück zur Bodenkultur’ (wie auch bei vielen nicht-nationalsozialistischen Forderungen nach der Dienstpflicht) Hans Grimms ‘Volk ohne Raum’.” (S.332), vgl. dagegen Kupffer S.91 der Nohls Aussage als beispielhaft für Denkmuster sieht, die aus “Angst vor Unordnung […] in der Ausländerfeindlichkeit ein Ventil” finden. ↩︎
- Nohl Landbewegung (1933) S.3f. ↩︎
- Man kann hier beispielhaft von einer Diskursverschiebung sprechen – die ursprünglich am rechten Rand entstandene Idee hatte sich bis 1931 in der Mitte der Gesellschaft etabliert. Zum Ursprung der Idee Stefan Brauckmann: Die Artamanen als völkisch-nationalistisch Gruppierung innerhalb der deutschen Jugendbewegung, in: Historische Jugendforschung 2/2005, S.176-196, zuerst bei Benz S.327f, zur Genese des Antislawismus: Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung – Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Tübingen 2013, S.120-123 und 128. ↩︎
- vgl. Steckmann S.102: “Nohls ‘Osthilfe’-Engagement bringt […] von Anfang an auch umfassende politische Standortbestimmung zum Ausdruck.”, vgl. mit explizitem Hinweis auf die Beziehung Herman Nohls zu Hans Grimm Christian Niemeyer: Jugendbewegung, völkische Bewegung, Sozialpädagogik – Über vergessen gemachte Zusammenhänge am Beispiel der Darstellung der Artamanenbewegung in der Kindt-Edition, in: Vom ,,Freideutschen Jugendtag bis zur Gegenwart, hg. von Gideon Botsch und Josef Haverkamp, Berlin 2014, S.195-220, insb. S.198-202: “Zu eben jener Zeit, zu der Grimm dem Nationalsozialismus bescheinigte, ‘die erste und bisher einzige echte demokratische Bewegung des deutschen Volkes’ zu sein, brachte Nohl einen Paradigmenwechsel fast à la Grimm in Vorschlag, nur eben nicht in Sachen Kolonien, sondern mit Blick auf den Osten. Nohls Ausgangspunkt lautete dabei, dass sich ‘im Osten unser deutsches Schicksal entscheidet.’ Diese im Rückblick auf Versailles betrachtet durchaus revisionistische Position veranlasste Nohl zu der Forderung, ‘daß sich die großartige sozialpädagogische Energie, von der Deutschland seit dem Kriegsende vorwärtsgetrieben wurde und die in ihrem Volksbegriff von Beginn an einen latenten nationalen Gehalt hatte, jetzt nationalpädagogisch ausrichtet.’” (S.200). ↩︎
- Peter Dudek: “Während die Pädagogen einerseits um die Autonomie ihrer Disziplin stritten, fühlten sie sich andererseits berufen zu Globaldeutungen der geistigen Situation der Zeit.” (S.148) Zum Bewusstseinswandel ab Ende des 19. Jahrhunderts, der die Arbeitslosigkeit als von der allgemeinen Fürsorge separates Tätigkeitsfeld verstand und für eine Darstellung des Kontextes, in dem sich Nohls Überlegungen einordnen lassen, vgl. Rainer Brösel: Volksbildung und Erwerbslosigkeit in der Weimarer Republik, in: Arbeitslosigkeit und berufliche Bildung, hg. von Gerhard Ebert und Albert Pflüger, Bonn 1984, S.26-40. ↩︎
- Nohl Landbewegung (1933) S.4. ↩︎
- Heinrich Kupffer: Der Faschismus und das Menschenbild der deutschen Pädagogik, Frankfurt am Main 1984, S.100. Bereits zuvor stellt Kupfer für die Reformpädagogik, der Nohl angehörte, fest, deren pädagogisches Denken liefe darauf hinaus “Politik […] in Pädagogik, Pädagogik in Politik” umzudeuten. “Damit ist gemeint: Das Politische sollte sich nicht als Interessenkampf der Parteien, Verbände, gesellschaftlichen Gruppen vollziehen, sondern als Dienst des einzelnen am ‘Ganzen’. Es ging weniger um die Gewinnung möglichst vieler Anhänger für ein konkretes Vorhaben als vielmehr darum, die jungen Menschen zu beeinflussen und ihnen bestimmte grundlegende Tugenden anzuerziehen.” (S.28) Kupffer erklärt weiter, dass Nohl “in jeder ‘Notsituation’ seines Zeitalters’ immer wieder “den Erzieher zum Wegweiser des Volkes” erklärt habe (S.72). ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 15.10.1932. Zu den neu gegründeten Pädagogischen Hochschulen der Weimarer Republik: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/1433/5/05paedho.pdf, vgl. hierzu Blochmann S.120: “Der Vortrag von 1932 [Pädagogische Bewegung oder Pädagogische Reaktion, S.G., s.u.] aber bringt sein Entsetzen darüber zum Ausdruck, daß die sozialdemokratische preußische Regierung in diesen Jahren in einer Art von Panik vor der Wirtschaftskrise auf allen Gebieten die reguläre Erziehungsarbeit drosselte und damit — zugunsten radikalisierten Gruppen — schwächte und schädigte.” ↩︎
- Stephan Pfeiffer: Pädagogik als Politikersatz – Herman Nohls Osthilfeprogramm in lebensgeschichtlicher Perspektive, Tübingen 1994, S.10f. Im Gegensatz dazu stellt Jonas (S.42) die These auf, dass Nohl beabsichtigte, die Pädagogik aus dem “Elfenbeinturm” in die Praxis zu bringen. ↩︎
- Siegel S.100. Beim Datum der Veröffentlichung irrt sie sich, vgl. Niemeyer 2014 S.201: “Mit dieser klaren Wertung unterschied sie sich deutlich vom – auf Verharmlosung abstellenden – pädagogischen Mainstream, dem hier mit dem Zwischenbefund entgegengetreten werden kann, dass Nohl ab 1931 wichtige Ideologeme, die auch in der Artamanenbewegung verbreitet waren, vertrat.” Unkritisch bspw. Erich Weniger: Herman Nohl und die sozialpädagogische Bewegung, in: Beiträge zur Menschenbildung – Herman Nohl zum 80. Geburtstag, in: Zeitschrift für Pädagogik 1959, 1, S.5-20, hier S.18f: “Kurz vor dem Einbruch des Nationalsozialismus 1933, in den Jahren der Arbeitslosigkeit und der allgemeinen Rückschläge versuchte Nohl nun umgekehrt, nicht auf eine Praxis theoretisch zu antworten oder eine Praxis mit Hilfe der Theorie zu klären, sondern durch seine Theorie eine Praxis zum Einsatz gegen eine Not erst zu schaffen. Hier ist das Verhältnis von Theorie und Praxis also anders als sonst; die Theorie sucht eine pädagogische Bewegung hervorzurufen.” ↩︎
- Eine auffällige Änderung im Text zwischen den Veröffentlichungen 1931 und 1933 ist der verstärkte Gebrauch des Wortes bzw. der Silbe “national”. So wird beispielsweise aus der “sozialen Befriedung im Inneren” mit Blick auf die 1880er Jahre (1931, S.69) eine “nationalsoziale” Befriedung (1933, S.7). Nur wenige Zeilen später wird aus der “Verteidigung einer Verfassung, über die sich im Grunde niemand ernstlich mehr hinwegsetzen kann” (1931, S.69) nur noch “die Verteidigung der Verfassung” (1933, S.7). Weitere Beispiel solcher Anpassungen lassen sich durchweg finden – sind aber hier nicht Fokus der Untersuchung. ↩︎
- vgl. zu Nohls Pädagogikkonzept zusammenfassend Daniela Gretz: Ästhetische Erziehung als Nationalpädagogik – Vom George-Kreis zu Herman Nohls Reformpädagogik, in: Totale Erziehung in europäischer und amerikanischer Literatur, Frankfurt am Main 2013, S.115-136 sowie Michael Gran: Das Verhältnis der Pädagogik Herman Nohls zum Nationalsozialismus – Eine Rekonstruktion ihrer politischen Gehalte, Hamburg 2005. ↩︎
- Gran S.190f, Hervorhebung S.G.. ↩︎
- Werner S.321, vgl. zur anti-polnischen Politik bis 1933 https://www.osmikon.de/themendossiers/shared-histories/deutsche-und-juden-als-minderheiten-in-der-zweiten-polnischen-republik-1918-1939: “Die Weimarer Republik, die im Westen territoriale Verluste akzeptierte, behielt sich einen Revisionismus im Osten vor und führte bis 1933 einen Zollkrieg gegen das Nachbarland. Nicht unerhebliche Gelder wurden aufgewandt, um Deutsche von einer Abwanderung abzuhalten, ihr Deutschtum zu unterstützen und so die deutschen Ansprüche auf die verlorenen Gebiete aufrechtzuerhalten.” ↩︎
- Kreis S.118f, Hervorhebung im Original, vgl. auch Niemeyer 2005 S.422, der darauf hinweist, dass Nohls “Nationalpädagogik” eigentlich immer gleichbedeutend mit dem Aufbau einer Kultur innerhalb der Siedlerbewegung sei, die er als Lösung der “Lebensfrage unserer Nation” sah. ↩︎
- Nohl Landbewegung (1933) S.13f. Melanie Werner verweist auf die zeitgenössisch prevalente Idee, dass eine “Erziehung” der Mütter Grundlage für ein “gesundes Volk” sei (S.292-294). ↩︎
- Nohl Landbewegung (1933) S.15. Angesichts der im Folgenden dargestellten Diskussion wird verständlich, wieso Nohl seine ursprünglich veröffentlichte Aussage bei der erneuten Publikation 1933 anpasste. An dieser Stelle steht 1931 (S.75): “[…] Volksbüchereien. Schwieriger liegt die Sache für die ländlichen Fortbildungsschulen und Hauswirtschaftsschulen, für die es an vorgebildeten Kräften fehlt; […].” ↩︎
- Kupffer S.101. ↩︎
- Zur Siedlungspolitik Anfang der 1930er Jahre grundlegende Henning Köhler: Arbeitsbeschaffung, Siedlung und Reparationen in der Schlussphase der Regierung Brüning, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17 (1969), Heft 3, S.276-307, hier S.288-295. ↩︎
- vgl. Joachim Nicolas Trezib: Die Theorie der zentralen Orte in Israel und Deutschland – Zur Rezeption Walter Christallers im Kontext von Sharonplan und Generalplan Ost, Berlin 2014, Abschnitt “Stationen des intellektuellen Werdegangs und der Theoriebildung” unter https://books.google.de/books?id=l_vmBQAAQBAJ&pg=PT380&lpg=PT380&dq=Habertshofer&source=bl&ots=R4gthHUN8a&sig=ACfU3U0bHSRvoC4oiETSZonLMi8eGj8ntw&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwjmpOnqrcOCAxVxhP0HHenZAGUQ6AF6BAgXEAM#v=onepage&q&f=false. ↩︎
- Ortmeyer Mythos S.205f. ↩︎
- Blochmann S.125. Obwohl dieser Hinweis faktisch richtig ist – Nohl war zu diesem Zeitpunkt kein Nationalsozialist – sind sowohl Inhalt wie Ton seiner Aussagen anschlussfähig an die nationalsozialistische “Weltanschauung”. Der Begriff “völkisch” ist zudem als zeitgenössisch stark verbreitet weniger tendenziös anzusehen, als Blochmann dies rückblickend tut (vgl. hierzu Werner S.113 und 138). ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 31.12.1931: “Den Sonderdruck meines Ostaufsatzes habe ich für die Propaganda benötigt […].”, vgl. hierzu auch Klafki & Brockmann S.30 und Anmerkung 54: Nohl beabsichtigte, “seine sozialpädagogischen Intentionen einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen” und versandte insgesamt 50 Sonderdrucke an maßgebliche Stellen. ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Krüger_(Verwaltungsjurist) In seinem Sammelband-Text Landbewegung, Osthilfe und die nationale Aufgabe der Pädagogik (1933) erwähnt Nohl (S.6) einen “Staatssekretär vom Preußischen Landwirtschaftsministerium”, der in einem Beitrag in den Blättern des Deutschlandbundes (“Neue Wege der Siedlungspolitik”, in Nr.14, Oktober 1931) eine neue Förderung der Siedlungsaktivitäten angekündigt habe. Im ursprünglichen Beitrag in Die Erziehung (Ende 1931) wird Hans Krüger namentlich benannt (S.68). ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 25, Krüger, Hans, Hans Krüger an Herman Nohl, 24.11.1931. ↩︎
- Zu Käthe Auguste Bertha Maria Delius, geb. 07.03.1893 in Hamm in Westfalen, vgl. Ortrud Wörner-Heil: Käthe Delius (1893-1977) – Hauswirtschaft als Wissenschaft, Petersberg 2018 sowie Ortrud Wörner-Heil: Frauenschulen auf dem Lande – Reifensetiner Verband (1897-1997), Kassel 1997, insb. S.174 An.221: “Käthe Delius (1893-1977), Lehrerin an den Frauenschulen Obernkirchen und Malchow, Gewerbelehrerin am Pestalozzi-Fröbelhaus in Berlin und in Königsberg i.Ostpr., nach 1918 Geschäftsführerin des Reichsverbandes der Lehrerinnen und Angestellten in Haus, Garten und Landwirtschaft, wurde 1923 die erste Frau, die als Referentin in ein Ministerium berufen wurde. Sie wurde Referentin für die ländlich-hauswirtschaftliche Frauenbildung im preußischen Landwirtschaftsministerium.” ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 13 Delius, Käthe, Käthe Delius an Herman Nohl, 16.11.1931. ↩︎
- Wörner-Heil Frauenschulen S.83. Dagmar Morgan spricht von einer “Fixierung der bürgerlichen Frauenbewegung während der Weimarer Zeit auf ‘Hauswirtschaft’” und einer “enorme[n] ideologische[n] Aufblähung dieses Sachgebietes”. (Morgan S.8), s. dagegen Elisabeth Siegels Kritik von 1979 (HSTAS Q 1/41 Bü 10): “Von einer ‘Fixierung’ der ‘Hauswirtschaft’ in der Weimarer Zeit kann nicht die Rede sein. Im Gegenteil, es war – verglichen mit heute, von der NS-Zeit ganz zu schweigen – eine vorübergehende Periode des Mitwirkens von Frauen in vielen qualifizierten Berufen und in der Politik.” ↩︎
- NLA BU D21 Nr.1354, Käthe Delius: Ein Leben für die ländliche Hauswirtschaft – Lebenserinnerungen zugleich eine Geschichte des ländlich-hauswirtschaftlichen Schulwesens von Anbeginn bis 1945, Teil II S.27. Diese Ereignisse liegen im Jahr 1924. ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 13 Delius, Käthe, Käthe Delius an Herman Nohl, 16.11.1931. ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 31.12.1931. ↩︎
- https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/XTPOHPWCKN6KTLA5I4I5TZCDLDCJZFPO. ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 25, Krüger, Hans, Herman Nohl an Hans Krüger, 11.01.1932, vgl. COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 31.12.1931: “Ich spreche Grimme [bzgl. der Schließung der Pädagogischen Akademien, S.G.] Anfang Januar und will versuchen zu retten, was noch zu retten ist.” Zur Beziehung Nohls zu Grimme vgl. Blochmann S.196-198. ↩︎
- Reichsminister ohne Geschäftsbereich und Reichskommissar für die Osthilfe, vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Schlange-Schöningen. ↩︎
- Reinicke, Peter: Die Ausbildungsstätten der sozialen Arbeit in Deutschland 1899-1945, Berlin 2012, S.269: Gertrud Bäumer, geb. 12.09.1873 in Hohenlimburg, Tochter eines Pfarrers, Volksschullehrerin, Ausbildung zur Oberlehrerin, Studium in Berlin (Theologie, Philosophie, Germanistik und Philologie), Promotion 1905, 1908-1916 Dozentin an der Sozialen Frauenschule Schöneberg (Sozialethik), Mitglied im Vorstand und Präsidium der Deutschen Zentrale für Jugendfürsorge, im Ersten Weltkrieg Mitglied des Vorstands des Nationalen Frauendienstes Abteilung Berlin, Gründerin und Leiterin (mit Marie Baum) der Sozialen Frauenschule und des Sozialpädagogischen Instituts Hamburg (1916-1919), 1919-1932 Mitglied der Nationalversammlung dann des Reichstags (DDP), im Reichsministerium des Innern (1920-1933) Ministerialrätin für Jugendwohlfahrt und Schule, 1923-1931 Mitglied im Kuratorium des Seminars für Jugendwohlfahrt der Deutschen Hochschule für Politik Berlin, Vorsitzende des Deutschen Jugendarchivs und Mitglied im Hauptausschuss des DV (1924-1933 und 1947-1954), gest. 25.03.1954 in Bethel. ↩︎
- Luise Besser, geb. 12.05.1889 in Neuhaldensleben, 1909 Lehrerinnenexamen in Wolfenbüttel, 1913-1915 Studium der Geschichte, Deutsch, Theologie und Philosophie in Göttingen und Berlin, 1915-1917 Vertretungslehrerin in Neuhaldensleben, 1917-1919 Studium in Berlin, 1919-1925 Leiterin des Sozialpädagogischen Seminars im Jugendheim Berlin-Charlottenburg, 1915-1945 Direktorin der Sozialpädagogischen Frauenschule der Stadt Breslau, 1947-1948 Lehrkraft für sozialpädagogische Aufgaben, 1948-1954 Direktorin des Fröbel-Seminars in Hamburg, gest. 06.09.1982 in Hamburg. (Reinicke S.189) ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 25, Krüger, Hans, Herman Nohl an Hans Krüger, 11.01.1932. ↩︎
- http://institutsgeschichte-ife.uni-goettingen.de/1920/01/01/252/, Klafki & Brockmann S.317, vgl. generell Elisabeth Siegel: Dafür und dagegen – Ein Leben für die Sozialpädagogik, Stuttgart 1981. ↩︎
- Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Adolf Grimme Elisabeth Siegel zumindest vom Namen her kannte, da diese im Jahr 1925 eine zeitlang bei Grimmes Amts-Vorgänger (1925-1930) Carl Heinrich Becker lebte, vgl. Siegel Dafür und dagegen S.37-39. ↩︎
- Elisabeth Siegel wird im Frühjahr 1932 nach Elbing an die dortige Pädagogische Akademie versetzt. Nach der Machtübernahme der NSDAP wird sie zum 1. April 1933, nach eigener Aussage aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen (https://de.wikipedia.org/wiki/Gesetz_zur_Wiederherstellung_des_Berufsbeamtentums), da sie als weibliche Dozentin Platz für einen Mann schaffen soll, vgl. Siegel S.88, Klafki & Brockmann S.125, vgl. auch die Briefe an Herman Nohl: COD. MS. H. NOHL 797-31, Siegel, Elisabeth, Universitätsbibliothek Göttingen. Da das o.g. Gesetz erst im April 1933 erlassen wurde und ihre anstehende Arbeitslosigkeit bereits im Februar bekannt war, handelte es sich bei Elisabeth Siegels Entlassung vermutlich um eine Nachwirkung der Austeritätspolitik und der Preußischen Sparverordnung vom 12. September 1931. Diese wurde dem zitierten Wikipedia-Artikel zufolge nach der sog. “Machtergreifung” vielfach dazu benutzt, „zum Zwecke der unumgänglichen Ersparnis an Personalangelegenheiten“ jüdisches und politisch unliebsames Personal zu entlassen., vgl. Siegel S.78, S.93. Unliebsam war Elisabeth Siegel vermutlich der großen Zahl an NS-affinen Stundet:innen und aufgrund der Konflikte im Kollegium, über die sie ausführlich in ihrer Autobiografie schreibt, Siegel S.88 vgl. Klafki&Brockmann S.46. ↩︎
- Klafki & Brockmann S.162. ↩︎
- vgl. zum Resultat seiner Bemühungen bspw. COD. MS. H. NOHL 646G, Brief vom 26.04.1932. ↩︎
- Pfeiffer S.200f. Benjamin Ortmeyer fasst die Argumentation Pfeiffers weniger kritisch so zusammen: “Im Abschnitt über das Osthilfeprogramm Nohls wird greifbar, dass der vorgeblich pädagogische Politikersatz bei Nohl darin besteht, ohne Skrupel soziales Engagement staatspolitisch zu mobilisieren.” (Ortmeyer S.135) ↩︎
- Unter Primitivsiedlungen verstand man, wie der Begriff nahelegt, Siedlungen, die durch Siedler:innen, die mit geringsten Mitteln ausgestattet wurden, aufgebaut werden sollten. Köhler (S.294) zufolge spricht man analog auch von “Notsiedlungen”, die aus einfachsten Blockhütten bestanden, ohne ausreichende Infrastruktur. ↩︎
- COD. MS. H. NOHL 797 : 25, Krüger, Hans, Protokoll vom 14.01.1932 betreffend die Beratung der Siedlerfrauen. Außer Käthe Delius sind tatsächlich nur Herren anwesend, die einzige Frau protokolliert: “Krüger, Ministerialrat Dr. Vollbach, Oberregierungsrat Weigelt, K. Delius”. ↩︎
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